Nr. 24 - Gänse

Das Festival

Erschöpft von ihrem letzten Abenteuer hatte die Gruppe von Wildgänsen um Akka von Kebnekajse verschlafen. Als sie schließlich, eine nach der anderen, erwachten, war die Aufregung groß, schließlich munkelten die Tiere, es sei ein heftiger Sturm im Anmarsch. Akka, die Leitgans beschloss trotzdessen, noch am selben Tag aufzubrechen, denn sie mochte es überhaupt nicht, ihrem ehrgeizig durchgetakteten Zeitplan hinterherzuhinken.

So geschah es, dass die Wildgänse, sowie der weiße Gänserich Marten und sein lieb gewonnener Däumlingskumpane Nils Holgersson, die nun schon einige Zeit mit Akka und ihrer Truppe reisten, etwas überhastet aufbrachen. Zunächst schienen alle Sorgen um den Sturm unbegründet, das Sonnenlicht lünkerte zwischen den Wolken hervor und es wehte nur ein leichtes Lüftchen.

„Habe ich euch Pessimisten nicht gesagt, dass ihr nicht so schwarz malen sollt und wir in Wesseltoft ankommen, bevor auch nur eine von uns einen einzigen Tropfen abbekommt?“, fragte Sidsel Endresen, die unter den Wildgänsen die engste Beraterin von Akka war.

Nils war aber doch etwas mulmig zumute, er war ja nun sehr klein und ein starker Sturm machte ihm schon Angst, außerdem sorgte er sich um Marten und die Wildgänse, da sie ihm ans Herz gewachsen waren. Um nicht wie ein Feigling dazustehen, schwieg Nils jedoch, klammerte sich weiter an Martens Federn und hielt Ausschau nach dunklen Wolken.

Sie überflogen gerade einen riesigen See, als der Himmel sich plötzlich zuzog, es sehr windig wurde und der Sturm sie unerwartet traf. Ohne die Chance, dem Wind entgegenwirken zu können, mussten die Gänse sich von dem starken Sturm treiben lassen und so kam es, dass sie von ihrer Flugbahn abkamen und erst in der Abenddämmerung völlig abgekämpft in einem Park landeten. Der Sturm hatte endlich nachgelassen, doch die Gänse waren allesamt so müde, dass sie vorerst kein Wort über den Orkan verloren, sondern ausgelaugt einschliefen.

Am nächsten Tag wurde Nils von bizarren, bekannten Klängen geweckt. Er hörte Gesang, einige Bläser, eine kurze Melodie und war sofort hellwach. „Hier müssen Menschen in der Nähe sein, möglicherweise wird ein Konzert gegeben.“, dachte Nils freudig und wehmütig zugleich, denn er liebte die Musik und doch konnte er sich nicht ohne Weiteres unter die Menschen mischen, da er ja verzaubert war. Aufgeregt weckte Nils den Gänserich, die Wildgänse waren schon in hitzige Diskussionen verwickelt, vermutlich planten sie den Weiterflug.

Marten, noch ganz verschlafen, schüttelte sein Federkleid und hörte dem kleinen Däumling gespannt zu, als dieser ihm von den Instrumenten und Melodien, die er vernommen hatte, berichtete. Der kleine Junge war so begeistert, dass Marten sich bereit erklärte, Nils auf seinen Rücken zu nehmen und gemeinsam nachzusehen, wo sie denn überhaupt gestrandet waren und woher diese Töne kamen. Er selbst hatte sie auch längst wahrgenommen und erlag, genau wie Nils, ihrem Bann.

Vorsichtig folgten die beiden Freunde ihrem Gehör und kamen dem Spektakel immer näher. Sie sahen Scharen von Menschen, fröhlich lachend, den Klängen entgegengehen und schnappten den Namen der Stadt, in der sie gelandet waren auf, als sie einem Gespräch zwischen zwei Männern lauschten. „...eine einzigartige Atmosphäre hier in Mørs, deshalb bin ich glücklich, wieder hier sein zu können. Für dich ist es das erste Mal, richtig?“, fragte der Mann mit der Trompete in der Hand den anderen, blonden Mann. Dieser nickte und noch bevor er Worte aus dem Mund bekam, fiel ihm die Kinnlade herunter und die Worte blieben ihm im Hals stecken, denn just in diesem Augenblick hatte er Nils erspäht, der sich nicht zurückhalten konnte und aus dem Versteck gelaufen war, um die Männer, die offenbar nicht weit von seiner Heimat zu kommen schienen, anzusprechen. „Wir haben so viele Musiker gesehen, gibt es ein Konzert?“, fragte er die Männer unverblümt.

Dem Blonden stand noch immer der Mund offen, doch der Trompeter schien nicht besonders erschreckt, denn er plauderte gleich drauf los: „Hej, ihr Zwei, da habt ihr aber eine lange Reise hinter euch! Ich kann euch sagen, es gibt nicht nur ein Konzert, sondern das gesamte Pfingstwochenende findet hier ein Festival statt. Musiker aus aller Welt werden auftreten, miteinander auf der Bühne stehen und Spaß haben. Das wird ein tolles Erlebnis, das kann ich euch sagen! Bleibt doch und seht euch ein paar der Konzerte an! Mein Name ist übrigens Nils Petter Molvaer und der Stummfisch hier neben mir ist Ståle Storløkken, und wer seid ihr?“

Während Nils Petter abwartend grinsend so dastand und Nils Holgersson und Marten betrachtete kam auch Ståle langsam wieder zu sich und auch er schaute die beiden Freunde erwartungsvoll an.

Nils erzählte und erzählte, er hatte so lange nicht mehr mit einem Menschen geredet, dass die Worte nur so aus ihm herausströmten. Als er fertig war, beschlossen Nils und der Gänserich, zunächst einmal zu den Wildgänsen zurückzukehren und ihnen die Neuigkeiten mitzuteilen. Sie verabschiedeten sich von Ståle und Nils Petter, dankten ihnen und versprachen, die anderen Gänse davon zu überzeugen zumindest zum Abschlusskonzert am nächsten Abend zu gehen. Doch Nils ahnte schon, dass Akka für ein ganzes Festival keinen Platz in ihrem nun noch enger geschnürten Zeitplan haben würde. So machten sich die Beiden auf den Weg zurück zu ihrem Domizil.

Als Marten und Nils an ihrer Schlafstätte ankamen, traute Nils seinen Augen kaum. Einige der Wildgänse tanzten, andere sangen gemeinsam und wiederum andere lagen einfach nur in der Sonne und ließen es sich gut gehen. Mittendrin in diesem Zirkus erblickte Nils die Leitgans und wunderte sich doch sehr. Er lief zu ihr hin, erzählte von ihrer Begegnung mit den beiden Musikern und berichtete, dass sie wohl in Mørs gelandet seien, als Akka ihn unterbrach. „Du kennst mich doch nun ein wenig, denkst du, ich faulenzte und feierte hier, wenn ich nicht die Zeit dazu hätte? Wir haben Glück im Unglück gehabt. Der Sturm hat uns einen Vorsprung von zwei Tagen verschafft, er hat uns genau in die richtige Richtung getragen. Wir hatten nur Glück, dass keiner von uns bei der Stärke des Windes verletzt wurde oder verloren gegangen ist. Wie gesagt, wir hatten großes Glück! Eine Pause und etwas Freude können wir alle nach den Strapazen gut gebrauchen, deshalb schlage ich vor, wir bleiben eine Weile und genießen diese Efterklänge!“

Begeistert von ihrem Vorschlag, fiel Nils der Gans um den Hals und so schlossen sich Nils und Marten den Feiernden an und tanzten und jauchzten bis in die späten Abendstunden.

Am nächsten Tag erwachte Nils schon in freudiger Aufregung. Er hatte große Lust den ganzen Tag über verschiedene Konzerte zu besuchen und den großen Menschen beim Musizieren, Lachen und Tanzen zuzusehen. Auch Marten und Mari Boine, die wohl musikbegeistertste Wildgans in ihren Reihen, konnten das erste Konzert kaum erwarten und so machten sich die drei schon früh am Morgen auf den Weg zur Bühne, um unbemerkt von den Menschen einen guten Platz zu erhaschen. In einer Baumkrone fanden sie ihren Logenplatz und ließen sich stundenlang von den Klängen des Jazz begeistern, mitreißen und ein breites Lächeln in die Gesichter zaubern. Die Zeit verflog rasend schnell, wie es immer ist, wenn man glücklich ist. Der Abend war schon angebrochen und Mats Gustafsson brachte gerade die Menge zum Toben, als Nils die beiden Musiker vom Vortag in der Menschenmenge entdeckte. Er winkte ihnen zu, doch sie sahen ihn nicht, denn er saß ja, winzig klein, oben in einem Baum. Nils hätte ihnen gerne gesagt, wie gut es ihm gefiel und dass sogar die Leitgans Akka ganz entspannt und gelöst zur Musik getanzt hatte und das doch nun wirklich ein kleines Wunder gewesen sei, doch durch die Menschenmassen war für ihn als Knirps kein Durchkommen möglich. Das Konzert ging dem Ende entgegen, als Ståle in ihre Richtung sah und seinen Freund, Nils Petter auf die Gänse im Baum aufmerksam machte. Dieser lachte, freute sich offensichtlich und zwinkerte Nils zu. Hatten sie also doch noch gesehen, dass Nils sein Versprechen eingehalten hatte.

Und es kam noch besser. Die beiden Musiker bahnten sich ihren Weg zu dem Baum, in dem Nils Und die Gänse Platz genommen hatten und schlugen ihnen vor das Abschlusskonzert gemeinsam zu genießen. „Au ja!“, jubelte der kleine Nils Holgersson und ließ sich von Nils Petter bis an den Bühnenrand tragen. Ståle trug die beiden Gänse und schwärmte von Paal Nilssen-Love, der gleich der Menge einheizen würde. An der Bühne angekommen, nahmen die Freunde Platz und erwarteten gespannt das letzte Konzert. Einige elektrisierende und freudige Stunden später trennten sich die neuen Freunde erschöpft, aber überglücklich voneinander und versprachen, sich unbedingt in der Heimat oder beim nächsten Festival wiederzusehen.

Nils und die beiden Gänse schwärmten noch eine Weile von dem großartigen Erlebnis und gingen dann bald zu Bett. Morgen würde schließlich eine lange Weiterreise und ein neues Abenteuer auf sie warten.

Fotograf: Michael Kietz

Nächstes Thema:  Friedrich Gulda

Zurück zur Übersicht
Unterstützt durch Die Beauftragte der Bundesriegierung für Kultur und Medien

Zur Moers Festival Homepage